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Was macht die Ziege auf dem Teppich?

Vielleicht haben Sie sich ja schon einmal gefragt, was die Muster auf den traditionellen Teppichen eigentlich bedeuten. Wenn man sich näher damit beschäftigt, fällt einem schnell auf, dass es je nach Teppichsorte bestimmte Motive gibt, die sich wiederholen und die für das jeweils typische Aussehen des Teppichs sorgen. Manche Teppiche haben eher eckige, geometrische Formen und andere sind mit verschnörkelten Arabesken verziert. Und dann gibt es da noch die kleinen Ziegen auf dem Gabbeh. Und immer wenn ich mich frage, warum da wohl Ziegen drauf sind, biege ich an der gleichen Stelle falsch ab und denke, na wegen der Wolle. An dieser Stelle ein kurzer Hinweis für alle anderen Stadtmenschen: Die Tiere mit der Wolle sind Schafe, Ziegen sind das mit der Milch.

Aber ganz verkehrt ist das trotzdem nicht. Denn tatsächlich wird für einen traditionellen Gabbeh auch Ziegenwolle verwendet – für Stadtmenschen vielleicht ein etwas ungewohnter Gedanke.

Der Gabbeh ist ein Nomadenteppich

Die Verwendung von Ziegenwolle ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass da kleine Ziegen auf dem Teppich sind. Gabbehs sind ursprünglich Nomadenteppiche, die für den Eigenbedarf und meist ohne Vorlagen geknüpft wurden. Deshalb verteilen sich die Motive auf traditionellen Teppichen bisweilen recht eigenwillig und unregelmäßig über die Fläche – und nicht so symmetrisch wie wir das heute kennen. Die Motive sind der alltäglichen Umwelt der einfach lebenden Nomaden entlehnt – und in dieser kamen Ziegen und Schafe sehr häufig vor, da sie von den Nomaden als Herden gehalten wurden. Gerade die Bedeutung der Natur und die Abhängigkeit der Nomaden von ihr wurde in den Teppichen motivisch „verarbeitet“. Beispielsweise auch im Motiv der gezackten Linie, die, je nachdem ob sie horizontal oder vertikal verläuft, als Hinweis auf stehendes oder fließendes Wasser gedeutet werden kann.

Die Bilder und Muster auf den Gabbeh-Teppichen waren nicht einfach nur Zierde, sondern haben darüber hinaus auch so etwas wie mystische Bedeutungen, die für uns heute kaum zu erfassen sind. Man geht davon aus, dass sie z.B. auch Schutzfunktionen wie Talismane haben konnten, aber die traditionellen Bräuche und individuellen Vorstellungen können heute kaum mehr rekonstruiert werden.

Für Stadtmenschen ist das immer ein ungewohnter Gedanke, dass es für die Knüpferinnen deshalb naheliegend war, Ziegen zu knüpfen, weil sie die Tiere vermutlich die ganze Zeit vor Augen hatten. Und dass der Besitz und das Wohlergehen der Tiere für das eigene Wohlergehen von großer Bedeutung waren. Und dass die Ziegen darüber hinaus vielleicht sogar etwas Mystisches ausdrücken sollen. Aber das alles macht mir die kleinen Ziegen auf dem Gabbeh nur noch lieber – unabhängig davon ob sie nun auf einem traditionellen Gabbeh (Bild oben links) oder als Motiv auf einem  modernen Designerteppich wie auf dem linken Bild vorkommen.

Quelle: Siawosch Azadi: Mystik der Gab-beh

Eva: